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– und was es mit mir macht

Es ist schon verrückt, wenn ich so darüber nachdenke. Vor zehn Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich mal wieder etwas künstlerisches machen werde. Das letzte Mal richtig gemalt hatte ich während des Studiums, und dann kam das Leben dazwischen. Ihr kennt das bestimmt – Beruf, Karriere, FAmilie, die täglichen Anforderungen. Irgendwann war da nur noch der Kopf, der funktionieren musste, und alles andere blieb auf der Strecke.

Der Moment der Erkenntnis

Lange Zeit dachte ich, das reicht. Intellektuelle Herausforderungen im Job, komplexe Projekte, strategisches Denken – das füllte mich aus. Bis mir auffiel, dass da etwas fehlte. Nicht etwas Kleines, sondern ein ganzer Teil von mir selbst. Es war, als würde ich nur mit einem Teil meiner Persönlichkeit leben.

Der Wendepunkt kam durch ein Gespräch mit einer Arbeitskollegin.Zufällig kamen wir auf das Thema “Neuanfagen”. Sie suchte überlegt schon länger, etwas völlig Neues anzufangen. “Ich weiß nicht”, sagte sie, “bin ich nicht zu alt dafür? Und was, wenn ich schlecht bin?” Während ich ihr Mut zusprach und erklärte, dass es doch nur um Freude geht, nicht um Perfektion, hörte ich mich selbst reden. Und plötzlich fragte ich mich: Was hindert mich eigentlich? Was kann schon schiefgehen? Das Schlimmste wäre doch, dass ein paar mittelmäßige Bilder entstehen. Na und? Und plötzlich wusste ich: Mir fehlten meine Hände. Nicht im wörtlichen Sinne natürlich, aber das Gefühl, etwas zu erschaffen, zu formen, entstehen zu lassen.

Das kleine Atelier zu Hause

Am nächsten Wochenende räumte ich mein Arbeitszimmer frei. Eine Staffelei, eine Grundausstattung an Farben, ein paar Leinwände. Nichts Spektakuläres, aber es war ein Anfang. Die ersten Versuche waren… nun ja, sagen wir mal: ernüchternd. Zumindest das bißchen Technik wieder vergessen. Meine Hände erinnerten sich kaum noch daran, wie man einen Pinsel hält. Aber da war auch etwas anderes – eine Aufregung, die ich jahrelang nicht gespürt hatte.

In diesem kleinen Atelier entstanden meine ersten Arbeiten nach der langen Pause. Kleine Formate, in denen ich mich langsam wieder herantastete. Ich probierte Techniken. Wissen eignete ich mir mit der Zeit wieder an. Schnell kamen die Themen, die mich beschäftigen. Aber was und wie wollte ich das eigentlich sagen?

Der Sprung ins Künstlerhaus

Als die Leinwände größer wurden und die kleine Ecke zu eng, stand eine Entscheidung an. Naja und den Wänden taten die Farbspritzer wohl auch nicht so ganz gut. Ich las von einem Projekt in der Nähe meines Wohnorts. Ein queeres Künstlerhaus in der Stadt, wo Ateliers frei waren. Ehrlich gesagt war ich nervös. Ein eigenes Atelier zu haben bedeutete Verpflichtung und auch, sich zu bekennen: Ja, ich bin Künstler. Nicht nur jemand, der ab und zu mal malt.

Der erste Tag im neuen Atelier war verwirrend und aufregend, im positiven Sinne. Plötzlich hatte ich Raum – nicht nur physisch, sondern auch mental. Größere Formate wurden möglich, und mit ihnen vertiefte ich meine Themen und Fragen. Daneben wirken die anderen Künstler im Haus natürlich sehr befruchtend. Plötzlich war eine neue Relevanz entstanden, die sich auch in der jetzt regelmäßigen Teilnahme an Ausstellungen zeigte.

Was das Malen für mich bedeutet

Malen ist für mich wie ein Gespräch mit mir selbst und anderen geworden. Aber nicht so ein oberflächliches “Wie war dein Tag?”-Gespräch, sondern eins, das in die Tiefe geht. Es ist der Ort, wo ich die Fragen stellen kann, die im Alltag keinen Platz haben oder einfach nicht ohne Aufregung behandelt werden.

In meinen Bildern beschäftige ich mich viel mit Identität – und zwar nicht nur mit der eigenen, sondern mit dem ganzen Konstrukt. Was macht uns zu dem, was wir sind? Welche Rollen spielen wir, und welche werden uns auferlegt? Besonders die Frage nach Männlichkeit lässt mich nicht los. Was bedeutet es heute, ein Mann zu sein? Jenseits aller Klischees und Erwartungen.

Sexualität ist ein anderes großes Thema. Nicht im plakativen Sinne, sondern als Teil unserer Identität, der oft versteckt oder verschämt behandelt wird. In meinen Bildern versuche ich, einen ehrlichen Blick darauf zu werfen – auf die Sehnsüchte, die Unsicherheiten, die Kraft, die darin liegt.

Sichtbar werden – der schwierigste Teil

Das Malen selbst ist eine Sache. Aber die Bilder zu zeigen? Das ist nochmal eine ganz andere Geschichte. Ich hatte zwar zuvor ausgestellt, aber immer auf kleinen Kunstmessen. Jetzt wrude ich Teil der regelmäßig stattfindenden Ausstellungen im Künstlerhaus. Und da es ein queeres Projekt ist, wurden auch meine Themen deutlich sichtbarer. Denn wenn du deine Bilder zeigst, zeigst du dich selbst. Du stehst nackt da – metaphorisch gesprochen.

Bei den Vernissagen stand ich oft in meinem Atelier und beobachtete, wie Menschen vor meinen Bildern standen, diskutierten, nachdachten. Ich führte viele interessante Gespräche mit den Menschen dort. Es war schön und beängstigend zugleich. Plötzlich waren meine intimen Gedanken, meine Fragen und Zweifel öffentlich. Aber es war auch befreiend. Die Gespräche, die entstanden, die Menschen, die mich danach ansprachen – das zeigte mir, dass die Themen, die mich beschäftigen, nicht nur meine sind.

Warum ich das alles erzähle

Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, aber ich hatte lange das Gefühl, dass Kreativität etwas für “andere” ist. Für die, die schon immer gewusst haben, dass sie Künstler sein wollen. Für die mit Talent und einer klaren Vision.

Heute weiß ich: Das stimmt nicht. Kreativität ist nicht elitär. Sie ist ein Grundbedürfnis, genau wie essen oder schlafen. Wir alle haben Geschichten zu erzählen, Fragen zu stellen, Perspektiven zu teilen. Es geht nicht darum, der nächste Picasso zu werden. Es geht darum, authentisch zu sein und den Mut zu haben, sich zu zeigen.

Die Arbeit geht weiter

Im Atelier arbeite ich gerade an einer neuen Serie über männliche Verletzlichkeit. Es sind Bilder, die zeigen, dass Stärke und Schwäche keine Gegensätze sind, sondern zusammengehören. Dass es okay ist, nicht immer die Antworten zu haben.

Manchmal fragen mich Leute, ob ich nicht Angst habe, zu persönlich zu werden in meinen Bildern. Die ehrliche Antwort ist: eigentlich nein. Aber die Angst davor, nicht authentisch zu sein, ist größer geworden. Und je mehr ich zeige, was mich bewegt, desto mehr erkenne ich, dass wir alle ähnliche Kämpfe führen.

Falls ihr selbst überlegt, wieder kreativ zu werden oder einen verschütteten Teil von euch zu reaktivieren: Macht es. Fangt klein an, macht euch keinen Druck, aber fangt an. Ihr werdet überrascht sein, was dabei rauskommt – und wer ihr dabei werdet.

Die nächste Ausstellung ist übrigens schon geplant wie ihr wisst. Diesmal bin ich nicht ganz so nervös. Nicht, weil die Bilder weniger persönlich wären, sondern weil ich gelernt habe: Gesehen zu werden ist besser als versteckt zu bleiben.


Was sind eure Erfahrungen mit kreativen Pausen und Neustarts? Erzählt mir gerne davon in den Kommentaren.

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Projekt Desire (oder: Vom Scheitern zum Begehren)

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